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Wer hat Angst?
 

Wer hat immer noch Angst vor der Wahrheit?

Ein Buch spaltet die Szene.

Von Dr. Thomas Kuklinski-Rhee, Korea National Sport University, Seoul

(Eingereicht im Oktober 2012 zur Veröffentlichung in der Zeitschrift
Der Budoka
,)

   Wie alt ist Tae Kwon Do (diese Schreibweise soll nachfolgend alle derartigen Stile einschließen) eigentlich genau? Kommt es aus dem Karate oder aus uralter koreanischer Tradition? Und was ist mit den traditionellen koreanischen Kampfkünsten wie Subak, Kwonbeop, Taekkyon? Wer hatte sich die Hyong ausgedacht, warum heißen sie manchmal Tul, und was ist mit den Poomsae? Wie war das eigentlich genau mit den Machtkämpfen zwischen ITF und WTF, und welche Rollen spielten dabei die koreanische CIA und die berüchtigte Moon-Sekte? Und wieso wurde ausgerechnet der Tae Kwon Do-Laie Kim Un-yong Kukkiwon- und WTF-Boss? Wer das schon immer mal wissen wollte, war bisher meist auf Gerüchte und Geschichten vom Hörensagen angewiesen, denn bisher gab es keine sauber recherchierte und unparteiisch geschriebene Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Tae Kwon Do.

   Jedenfalls nicht außerhalb der koreanischen Sprache. In Korea sind spätestens seit einer Veröffentlichung des Philosophen Kim Yong-ok im Jahre 1990 zahlreiche Bücher erschienen, die einen mehr faktenbasierten Ansatz anstelle eines von Wunschvorstellungen geleiteten, ein sogenanntes revidiertes Geschichtsbild verfolgen. Insbesondere im akademischen Bereich werden Lehrbücher und Dissertationen veröffentlicht, die von den weithin bekannten Legenden über den Ursprung des Tae Kwon Do in den traditionellen koreanischen Kampfarten bis hin zu den Hwarang Abstand nehmen. So zieht sich etwa der WTF-Kampfrichter und Inhaber einer Tae Kwon Do-Schule, Yang Hyon-seok, in seiner Doktorarbeit über „Die Entwicklung der Tae Kwon Do-Globalisierung seit der koreanischen Unabhängigkeit“ von 2006 auf den „Geist“ (spirit) der jahrhundertealten waffenlosen Nahkampftraditionen Koreas zurück; technisch aber komme der Einfluss vom Karate (S. 243). In einem neueren Lehrbuch über „Globale Sportgeschichte“ der bekannten Sporthistoriker Jeong Dong-gu, Ha Woong-yong und Cho Joon-ho aus diesem Jahr (2012) findet der koreanische Nationalsport Tae Kwon Do vor 1945 keine Erwähnung, dafür aber u.a. Taekkyon (S. 326). In einer Doktorarbeit aus jüngster Zeit („Die unvollständige Umwandlung des Tae Kwon Do von einer Kampfkunst zu einem Kampfsport“, Juni 2012) von Udo Mönig, Professor für Tae Kwon Do an der Youngsan-Universität bei Busan, wird die Entwicklung des koreanischen Nationalsports aus dem japanischen Karate als gegeben (wenn auch nicht überall akzeptiert) vorausgesetzt und z.B. in einem Stammbaum übersichtlich präsentiert (S. 68).

   Diese Entwicklung hat bisweilen Niederschlag in anderen Sprachen und Ländern gefunden. So hat bereits 1995 der ehemalige Tae Kwon Do-Wettkämpfer Steven Capener aus den USA einige Ideen seiner koreanischen Doktorarbeit in einem englischsprachigen Aufsatz über Probleme im Selbstbild und in der Philosophie des Tae Kwon Do und ihre historischen Ursachen veröffentlicht und dabei Gedanken Kim Yong-oks aufgegriffen. Auf ihn bezieht sich auch ein Kollege von Udo Mönig an der Youngsan-Universität, Hyosong Gu, der an der Uni Hamburg 1994 seine Diplomarbeit über „Aggression, Nationalismus und Kampfsport in Ostasien“ sowie sechs Jahre später seine Doktorarbeit über „Kampf und Bewegung“ vorlegte. In unmissverständlicher Sprache tritt er dort für die revidierte Geschichtsschreibung des Tae Kwon Do ein und ergründet die Ursachen in der Motivation ihrer Gegner. Diese Schriften haben über das Internet eine gewisse Verbreitung gefunden und bei vielen Tae Kwon Do-Fans Zweifel an den offiziellen Darstellungen aus Korea über die Jahrhunderte alte Tae Kwon Do-Entwicklung aufkommen lassen. Einer der einflussreichsten Texte dieser Art, die über das Internet zugänglich wurden, war ein auf Englisch übersetzter (allerdings nicht autorisierter) Auszug aus einem Buch von 1999 über „Die Geschichte unseres Tae Kwon Do“ von Kang Won-sik, derzeit Präsident des Kukkiwon, und Lee Kyong-myong, österreichischer Tae Kwon Do-Pionier und ehemaliger WTF-Generalsekretär. Detailliert wird dort beschrieben, wie die Gründerväter des Tae Kwon Do aus dem gerade besiegten Japan und seiner Provinzen Karate mitbrachten und die Kampfart in Korea im Laufe von Jahrzehnten in die verschiedenen Stile weiterentwickelten. Der promovierte Historiker und Hapkido-Experte Dakin Burdick vom Endicott-College in Massachusetts, USA, machte in seinen (englischen) Aufsätzen schließlich darauf aufmerksam, dass sich diese Entwicklungslinie von einer ursprünglich japanischen zu einer eigenständigen koreanischen Kampfart nicht nur beim Tae Kwon Do findet, sondern auch, ganz parallel dazu, beim Hapkido.

   Alle diese Schriften und viele andere mit ähnlicher Stoßrichtung verdankten ihre Bekanntheit hauptsächlich dem Internet; allerdings blieb es auch weitgehend auf dieses Medium begrenzt. Die in Korea ansässigen oder verwurzelten großen Tae Kwon Do-Verbände dagegen verbreiten bis heute die Mär von der Jahrtausende alten Traditionslinie dieses speziellen Kampfsports. Danach stelle die japanische Besatzung Koreas im Grunde nur eine Pause in dieser Entwicklung dar, ohne entscheidende Auswirkungen. (Kleinere, meist eigenständige Verbände dagegen schreiben sich oft schon die revisionistische Geschichtsschreibung des Tae Kwon Do auf die Fahne.) Da nun die meisten Internetbenutzer eher selten bereit sind, längere Abhandlungen aus dem Netz herunterzuladen und zu studieren, haben die Verbände über die ihnen angeschlossenen Vereine weiterhin die Deutungshoheit über die eingangs gestellten Fragen, und ohne eigenes Verschulden und in bester Absicht transportieren zigtausende eifriger Tae Kwon Do-Fans die ihnen beigebrachten Lektionen an die nächste Generation weiter.

   Den konsequenten ersten Schritt in ein anderes Medium, in die gute alte Buchform, hat als erster außerhalb der koreanischen Sprache der investigative Journalist Alex Gillis aus Toronto, Kanada, gewagt. Er lehrt Journalismus an der Ryerson-Universität in Toronto und betreibt seit über 25 Jahren selbst Tae Kwon Do, mal mehr ITF, mal mehr WTF. Bereits 2008 ist sein Buch „A Killing Art: The Untold History of Tae Kwon Do“ im englischen Sprachraum erschienen. Ganz ohne konventionelle Werbung erreicht er tausende von Tae Kwon Do-Fans, indem er mit seinem Buchstand Turniere in aller Welt besucht und vor Ort Veranstalter, Teilnehmer und Besucher zu Gesprächen über die Hintergründe ihrer Lieblingssportart einlädt. Seine Recherchen basieren vor allem auf persönlichen Interviews mit respektierten Pionieren des Tae Kwon Do, darunter General Choi Hong-hi mitsamt Sohn und drei Töchtern sowie die weithin bekannten Meister Nam Tae-hi, Jhoon Rhee, Park Jong-soo, C.K. Choi und viele andere. Neben der obligatorischen Tae Kwon Do-Fachliteratur, einschlägigen Werken zur Geschichte Koreas und der koreanischen CIA und den autobiographischen Erinnerungen des ITF-Gründers, General Choi, und des ehemaligen WTF- und Kukkiwon-Präsidenten, Kim Un-yong, hat Gillis auch eine ganze Reihe an teilweise oben genannter Internet-Literatur berücksichtigt.

   In diesem Jahr ist sein Buch unter dem Titel „Tödliche Kunst: Die verborgene Geschichte des Tae Kwon Do“ auch endlich auf Deutsch erschien, nachdem es bereits in einer spanischen Übersetzung vorlag. Da die Suche nach einem Verlag, der das Buch in Deutschland herausbringen sollte, nicht erfolgreich war, vertreiben er und seine deutschen Partner das Buch auf Eigeninitiative über eine eigens dafür eingerichtete Website, www.toedliche-kunst.de.

   Im Frühjahr dieses Jahres kam der Autor nach Deutschland geflogen, um das Buch auf der „German Open“ der DTU in Hamburg zu promoten, Bücher zu signieren und mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Er hatte auf vielen Turnieren im englischen Sprachraum gute Erfahrungen damit gemacht, insbesondere die Veranstalter zeigten sich seinen Recherchen gegenüber sehr aufgeschlossen, und auch in Lateinamerika wurde er schon auf Turniere eingeladen. In Deutschland hingegen stand die Turnierleitung dem Buch sehr reserviert gegenüber, und obwohl die komplette DTU-Führung anwesend und der eine oder andere zu einem Interview bereit war, gelang es Gillis nicht, eine tief sitzende Skepsis zu überwinden. Worin diese wurzelt, hatte gegen Ende der Veranstaltung ein DTU-Vizepräsident dankenswerterweise verraten.

   Das Buch wird mit den Enthüllungen in Verbindung gebracht, die der englische investigative Journalist Andrew Jennings in den 90er Jahren über den damaligen WTF-Boss und Vizepräsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Kim Un-yong, veröffentlichte. Im zehnten Kapitel seines Buches „The New Lords oft the Rings“ von 1996, auf Deutsch „Das Olympia-Kartell“, beschreibt er unter dem Titel „Schwarze Gürtel und schmutziges Geld“, wie es Kim gelungen war, sein Tae Kwon Do beim IOC, das damals vom autoritären Juan Antonio Samaranch geleitet war, auf Kosten des weitaus populäreren Karate als olympischen Kampfsport durchzusetzen.

   Kim und Samaranch sind längst nicht mehr im Amt (letzterer ist 2010 verstorben), aber die Geschichte enthält eine gewisse Aktualität, weil das IOC im nächsten Jahr eine Entscheidung darüber treffen muss, welche der 26 Sportarten aus dem Programm der künftigen olympischen Sommerspiele genommen wird. Für die DTU kommt diese Entscheidung in mancher Hinsicht einer Existenzfrage gleich. Der Verlust des Olympiastatus würde schnell empfindliche Kürzungen an Trainer- und Förderstellen, etwa bei der Sportfördergruppe der Bundeswehr, und aus Fonds wie der Deutschen Sporthilfe zur Folge haben. Für die ohnehin angespannte Situation der DTU, die seit Jahren sinkende Mitgliederzahlen zu beklagen und sowohl im eigenen Land, innerhalb des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), wie auch international, in der Mutterorganisation WTF, einen schweren Stand hat, würde das nicht gerade den Befreiungsschlag bedeuten. Eher im Gegenteil. Verständlich also die verhaltene Reaktion der DTU. Aber ist sie auch weitsichtig genug?

   Wie Jennings gezeigt hat, ist Tae Kwon Do unter gezielter Verdrehung der Sachlage und vorsätzlicher Täuschung der entsprechenden Kommissionsmitglieder in den sportlichen Olymp gehievt worden. Doch die Zeiten haben sich geändert, seit der Korruptionskrise um die Winterspiele von Salt Lake City im Jahr 1999 und Samaranchs Rücktritt zwei Jahre später weht selbst im IOC ein anderer Wind. Wer glaubt denn ernsthaft, dass die heutigen Entscheidungsträger sich von den alten Gespenstern aus der Zeit des Kalten Kriegs an der Nase herumführen lassen? Wer hat denn hier immer noch Angst vor der Vergangenheit?

   Dazu besteht im Zeitalter des „Open Source“ und der beinahe allmächtigen online-Transparenz kein Grund. Frei nach dem Motto: „Irgendwann kommt’s eh raus!“ ist es vielmehr ratsam, proaktiv tätig zu werden und den eigenen Kohlenkeller selbst aufzuräumen, statt den vermeintlichen Dreck unter dem Teppich zu belassen und zu hoffen, dass keiner über die Falten stolpert. Eine solche Wurzelbehandlung ist notwendig, um mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen. Wer die Gelegenheit dazu verpasst, darf sich nicht wundern, wenn ihn die Welt nicht mehr mitspielen lässt. Wer auf Weltebene was gelten will, der muss sich auch an den Maßstäben messen lassen, die dort inzwischen gelten. Angesichts der immer deutlicher werdenden Korruptions- und Dopingpraktiken im Weltsport werden die seit langem erklingenden Forderungen nach mehr Transparenz langsam, für viele noch viel zu langsam, erhört, und dazu gehört auch die Aufarbeitung der jeweiligen Vergangenheit. Sollten einige Veteranen sich dagegen sperren, weil sie selbst damals in der einen oder anderen Hinsicht darin involviert waren, so sollten sie sich fragen lassen, ob es nicht Zeit für sie ist, abzutreten und der nächsten Generation Platz zu machen. Geht es hier um den Sport oder um Karrieren? Das olympische Tae Kwon Do muss von oben herab reformiert werden. Und das geht am besten mit frischem Personal.

   Als Gillis versuchte, sein Buch in Deutschland zu verkaufen, musste er sich über die Schüchternheit der DTU-Leute sehr wundern, hatte er im englischsprachigen Raum doch ganz andere Erfahrungen mit WTF-Vertretern gemacht. Auch gingen WTF-Leute aus dem Ausland, Besucher wie Teilnehmer, sehr offenherzig auf ihn und seine englischen und spanischen Bücher zu.  Ist das also ein Phänomen des deutschen Sonderwegs, die berühmte „German Angst“? Andererseits geht man in olympiafernen Tae Kwon Do-Stilen die Angelegenheit der Vergangenheitsbewältigung schon seit langem weitaus entspannter an. Entsprechend scheinen insbesondere ITF-nahe Kampfsport-Fans Gillis‘ Buch viel abgewinnen zu können. Es kamen aber auch nicht selten Besucher vorbei, die irgendwo im Internet von seinem Buchstand gehört hatten und extra deswegen die Turnhalle der Reeperbahn vorzogen. Das sollte doch ein Hinweis darauf sein, dass der wahre Tae Kwon Do-Fan sich von Widrigkeiten nicht abbringen lässt, wenn es um sein Hobby geht. In die Argumentationslinie dieses Essays übersetzt bedeutet das, dass es dem Tae Kwon Do-Sport ganz und gar nicht zum Schaden gereicht, wenn einer mal endlich die machtpolitischen und monetären Räuberpistolen der alten Kader zum Besten gibt. Die einzigen, die sich davor fürchten müssten, sind die bösen Jungs selbst.

 

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